Das Diagnose-Puzzle
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Im Brutkasten lag ein ganz kleiner Winzling und woran sich alle erinnern, das einzige was sich bewegte waren die süßen Spinnfinger, die unaufhörlich an der Wand des Brutkastens hochkrabbelten. Damals hätte wohl niemand in der Familie damit gerechnet, dass das Würmchen noch richtig groß wird. Man ließ mich erstmal einige Wochen in der neuen Bruthöhle nachreifen und dann durfte ich zur Familie. Recht früh stellte sich heraus, dass an beiden Hüften eine Protrusio acetabuli vorlag, die beidseits operiert wurde. Nachdem man mich Wochen später aus dem Gipsbett entlassen hatte, stand meinem Ziel, krabbelnd und später laufend, mit meinen orthopädischen Einlagen die Welt zu erkunden nur noch eine Kleinigkeit im Wege: das Kind geht auf Kollisionskurs mit allem Möglichen! Dass ich mit Anfang 30 nochmals auf Kollisionskurs gehen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt, Gott sei Dank, niemand. Die Fehlsichtigkeit wurde, soweit wie möglich, mit einer Brille korrigiert und von nun an war ich Stammgast beim Augenarzt. Die Kurzsichtigkeit nahm von Jahr zu Jahr zu und bald wurden die Brillengläser so dick, dass ich heute noch erstaunt bin, wie viel Gewicht so ein Nasenrücken in der Wachstumsphase aushalten kann. In der Schule gab es für die Größte und Dünnste einen Platz in der ersten Reihe und nach diversen Luxationen und den damit verbundenen Operationen eine Befreiung für den Sportunterricht. Nach vielen, für einige Mitschüler recht schmerzhaften Versuchen, den anderen beizubringen, wie man die Finger ganz auf den Handrücken biegt, mussten wir feststellen, dass ich die Einzige war, die das konnte. Ich habe als Kind lange Zeit nicht verstanden, dass „normale" Finger nicht so beweglich sind und dachte, die Hände aller anderen Kinder seien kaputt. Die Kurzsichtigkeit nahm weiter zu und es wurde zu einer Kontaktlinsenversorgung geraten.
Meinen Eltern wurde es langsam unheimlich, dass ich soviel größer als gleichaltrige Kinder war und die Frage, soll man das Wachstum durch eine Hormonbehandlung bremsen, stand im Raum. Ich fand mich nicht zu groß und damit hatte ich den Arzt auf meiner Seite und das Thema wurde verworfen.
Mit Anfang zwanzig nahm die bis dahin stabile Augensituation innerhalb weniger Tage eine Wende. Eines Mittags sah ich auf dem linken Auge helle Lichtblitze, die Bruchteile von Sekunden anhielten und dann wieder verschwanden. Nachdem diese Blitze immer mal wieder kamen, und ich noch lauter schwarze Punkte im Blickfeld hatte, holte ich mir einen Termin beim Augenarzt. Bis zu dem Termin vergingen noch zehn Tage und die Sicht wurde nicht besser. Bei der Untersuchung gab der behandelnde Arzt nur unverständliches Grummeln von sich, die erste Frage nach endlosen Minuten Gegrummel war: Warum kommen sie erst jetzt? Na, weil ihr Terminkalender voll war und ich erst heute einen Termin bekommen habe! Er grummelte dann wieder Unverständliches und schickte mich zur Anmeldung, ich solle da warten. An der Anmeldung stand ein älterer Herr und die Arzthelferin telefonierte; sie bräuchte ein Bett - Notfall OP - noch heute. Ich dachte noch: Der Arme, der muss gleich hier bleiben. Der hat sich den Tag bestimmt anders vorgestellt. Als die Dame dann mich ansprach, ob ich gleich dableiben könne, sind meine Gesichtszüge völlig entglitten. Die Diagnose lautete Netzhautablösung auf beiden Augen. Nach den Operationen hatte ich starke Schmerzen, der Arzt sagte mir, das sei völlig normal. Nachdem das Wochenende vorbei war, stellte sich nach zwei Tagen Dauerschmerz heraus, dass der Augendruck über 50 war. Man konnte die Sehfähigkeit durch Anlage einer Cerclage und diversen Laserbehandlungen auf einem Auge erhalten, auf dem anderen Auge erblindete ich. Ich erinnere mich noch sehr gut: zu der Zeit war ein richtiger Feldwebelverschnitt Chefarzt der Augenklinik. Als man mich ins Behandlungszimmer brachte, ließ der gute Mann seinen ganzen Charme spielen - er brüllte mal kurz durch den Raum: „Da ist nichts mehr zu machen und bei der Gesamtsituation des anderen Auges können sie sich schon mal darauf einstellen, dass es da in spätestens 1-2 Jahren auch zappenduster wird - und weg war er!
Während des Klinikaufenthaltes wurde ein Herzecho gemacht. Man sagte mir nur, ich solle einmal im Jahr zum Herzecho gehen wegen der Klappen, die seien nicht ganz in Ordnung, aber das sei nicht so schlimm; und ich hätte ein Lungenemphysem, das könnte Marfan sein. Aber so wie sich alle verhielten, schien Marfan ja nichts dolles zu sein - abgeklärt wurde es jedenfalls nicht.
Es hat einige Wochen gedauert, bis ich mich an meine 10% Restsehfähigkeit gewöhnt hatte. Gelegentlich habe ich mir noch die Frage gestellt: Wie stellt man sich darauf ein, dass es in 1-2 Jahren zappenduster ist? Ich fand darauf keine für mich sinnvoll erscheinende Antwort und verdrängte es. Schließlich kam ich nach kurzer Zeit mit meinen 10% Sehfähigkeit, Z.n. Netzhautablösung, Glaukom, Myopie, Linsenluxation, Neovaskularisation, Strabismus, Nystagmus und was sonst noch so alles in ein Marfan-Auge passt, gut zurecht. Die nächsten 13 Jahre blieb das Auge stabil. In all den Jahren habe ich mich immer auf dem neusten Stand der Technik für Sehbehinderte gehalten.
Ende 2003 verschlug es mich aus heiterem Himmel auf die kardiologische Intensivstation der Uniklinik. Im Rahmen dieses Klinikaufenthaltes wurden meine Diagnose-Puzzleteile und noch bis dahin unbekannte Teile zum Marfan-Syndrom zusammengefügt, ich bekam eine hervorragende Aufklärung was Marfan ist, zusätzlich gab es noch sehr viel Informationsmaterial, das ich mir zuhause in Ruhe durchlesen konnte, darüber bin ich letztendlich auch zur Marfan Hilfe gekommen. Vieles, was ich bis dahin in meinem Leben gemacht habe, war alles andere als kompatibel mit Marfan, ich musste vorsichtiger werden und hielt mich von nun an auch auf dem Gebiet immer auf dem aktuellsten Stand.
Der Grüne Star, der sich bis 2005 durch regelmäßige Druckkontrollen und Anpassung der Augentropfen in einem akzeptablen Bereich halten ließ, entwickelte eine Eigendynamik, die nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war. Ich musste mehrfach stationär in die Augenklinik und diverse Cyclophoto-Koagulationen folgten, um den Druck zu senken. Trotzdem ließ sich der Druck immer nur kurzzeitig senken. Zwischenzeitlich verschlechterte sich mit jedem Mal, wenn der Druck anstieg das Sehen, die Gesichtsfeldausfälle nahmen zu. Ich hatte sehr mit den Medikamenten-Nebenwirkungen zu tun und letztendlich war ein 25er Augendruck für meine vorgeschädigten Augen zuviel und führte erneut zu einer OP. Das Sehen wurde immer nebliger. Der Versuch, durch eine tiefe Sklerektomie den Druck zu senken (in der Operation entfernte man auch die Linse und ersetzte sie durch eine künstliche), hatte nicht den gewünschten Erfolg. Das Ganze hatte den positiven Effekt, dass ich hinterher schmerzfrei war. Die visuellen Eindrücke der Welt waren für mich nach der Operation nicht mehr auflösbar, vielleicht würde sich das wieder geben, man müsse abwarten, was die Zeit bringt.
Nach drei Wochen Klinikaufenthalt war es klar, das sollte der Endzustand sein: Blind! Ich würde ein Orientierungs- und Mobilitätstraining absolvieren müssen. Mit einem Langstock durchs Leben gehen. Wie soll das nur funktionieren? Nein, ich wollte keinen Langstock! Aber mit Anfang 30 veröden wollte ich auch auf keinen Fall. Ich fing an, mir einen Plan zu recht zu basteln, wie ich aus der Situation das Beste machen kann. Ich wollte einen Führhund!
Ich beantragte ein Mobilitätstraining und einen Langstock bei der Krankenkasse, die Antragsbearbeitung dauerte fünf Monate, dann war meine Geduld am Ende und ich habe so einen Aufstand bei der Krankenkasse gemacht, dass ich noch im selben Telefonat das Okay bekommen habe. Das Training konnte beginnen.
Ziemlich am Anfang des Trainings sagte mir der Trainer, wenn wir die Schulung abgeschlossen haben, werden sie sich auf der Straße und in Gebäuden orientieren können, sie werden hören, wann eine Ampel Rot oder Grün ist, sie können Häuser, Eingänge und parkende Autos hören usw. Seine Aufzählung, was ich alles wahrnehmen würde, hörte gar nicht mehr auf. Ich dachte nur, er ist ein sehr sympathischer, lustiger Typ, aber irgendwie ist der doch ein bisschen durchgeknallt. Ich fragte ihn etwas ironisch, wie es denn bei den Häusern mit den Fenstern aussieht und ob ich vielleicht auch hören kann, ob die Fenster Holz- oder Kunststoffrahmen haben. Er antwortete ganz ruhig und gelassen; das hängt davon ab wie viel Talent sie haben und ob sie sich darauf einlassen. Das Mobilitätstraining war eine große Herausforderung, ich erlernte den Umgang mit dem Langstock, wie das System Straße funktioniert, mich in Gebäuden und öffentlichem Raum zu orientieren. Meine auditiven Fähigkeiten verbesserten sich mit jeder Trainingsstunde; anhand von Schalllokalisation konnte ich Passanten ausweichen und die Stopplinie von haltenden Autos an Ampeln wahrnehmen. Ich lernte, in komplexen Geräuschkulissen die einzelnen Geräusche voneinander zu unterscheiden und den reflektierenden Schall der Umgebung auszuwerten, was mir u.a. ermöglicht, durch vorbeifahrende Autos eine Einfahrt zu erkennen bzw. das Hören von parkenden Autos, Parklücken, offenen Türen u.v.m.
Und ganz besonders die Echolokalisation hat es mir angetan: wenn man ein Geräusch erzeugt und der Schall in der Umgebung reflektiert wird, liefert der reflektierte Schall Informationen über die Umgebung. Man kann dadurch z.B. Raumgrößen abschätzen, Nischen an der Wand wahrnehmen, Anfang und Ende von Mauern und Hecken hören, Säulen und Pfeiler aus bis zu 5 m Entfernung als Hindernis erkennen.
In einer der folgenden Stunden haben wir dann spaßeshalber den Versuch gestartet, ob ich Kunststoffrahmen von Holzfensterrahmen unterscheiden kann. Es klappte – aber ich musste mich dafür schon sehr konzentrieren. Ich würde die Technik der Echolokalisation gerne noch vertiefen, vielleicht werde ich irgendwann die Möglichkeit haben, bei dem US-Amerikaner Dan Kish einen Kurs zu belegen.
Das Mobilitäts- und Orientierungstraining gab mir ein großes Stück Sicherheit zurück. Mittlerweile hatte ich mich mit den nötigsten Hilfsmitteln wie offenem Lesesystem, zum Lesen von Zeitschriften und Büchern, sowie surfen im Internet und zur Nutzung eines Farberkennungsgerätes. Schließlich ist die Welt bunt und die ganzen Kleidungsstücke und der Lippenstift wollen auch farblich abgestimmt sein. Ich nutze einen Sherlock Materialfinder – mit dem man besprochene Etiketten auslesen kann. Diese sorgen nun auf allen CDs, Aktenordnern und Konserven für Ordnung.
Langsam aber sicher wurde alles wieder normal und die neue Situation hatte ihren Schrecken verloren. Bei der Krankenkasse lief der Antrag auf einen Führhund. Auf Grund von Marfan und der möglichst gering zu haltenden Sturzgefahr, der verkehrsreichen Lage meiner Wohnung und einigen anderen Gegebenheiten würde der Antrag ohne Probleme durchgehen, dachte ich. Von der Antragstellung bis zu dem Tag, an dem meine Freiheit auf vier Pfoten bei mir einzog, vergingen 746 Tage. Dann war es endlich soweit und wir konnten nach einer dreiwöchigen Schulung am Wohnort erfolgreich die Gespannprüfung ablegen. Ampeln, Zebrastreifen, Bänke, Eingänge, Briefkästen, Treppen, Fahrstühle, U-Bahnen und vieles mehr sucht er mit großer Freude, Hindernisse werden umgangen oder eifrig angezeigt, und wenn ich ihm im Supermarkt das Kommando gebe: such Frühlingsquark oder auf der Straße sage: such Tchibo und er zielsicher zum Frühlingsquark bzw. zu Tchibo geht, sorgen wir schon manchmal für Erstaunen und Grübeln bei den Passanten. Der Hund verknüpft im ersten Fall den Befehl mit einem Standort und im zweiten den Standort oder Geruch mit dem Befehl - das ist das ganze Geheimnis an der Sache. Er ist nicht in der Lage Einkauflisten abzuarbeiten - das ganze ergab sich mehr oder weniger aus einem Scherz.
Häufig wird mir die Frage gestellt: warum findet er Ampeln, geht aber bei Grün nicht rüber? Er kennt Ampeln, aber er kann keine Farben erkennen und auch nicht die Straßenverkehrsordnung lesen, dafür kann er Mobilität, Unabhängigkeit und viel Anlass zur Freude geben! Wir beide waren nach kurzer Zeit schon sehr sicher unterwegs und im September machten wir uns auf den Weg zum Marfan-Wochenende. Dank Anette und ihrer Familie, die ich über die Marfan Hilfe kennen lernte und die spontan angeboten haben, mich und den Vierbeiner in Hamburg-Altona einzusammeln, waren meine letzten Bedenken verschwunden und es konnte losgehen. Die herzliche Atmosphäre in Rissen, die informativen Vorträge und die netten Kontakte, die an diesem Wochenende zustande gekommen sind, möchte ich nicht missen. Hamburg war unser erster Marfantag aber ganz sicher nicht der Letzte.