Indikationen für eine molekulargenetische Diagnostik bei (Verdacht auf) Marfan-Syndrom
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Die Diagnose Marfan-Syndrom wird in der Regel klinisch gestellt und kann durch eine molekulargenetische Untersuchung genetisch gesichert werden. Bei etwa 95% der Personen mit Marfan-Syndrom wird die klinische Symptomatik durch eine krankheitsrelevante Veränderung (Mutation) im Gen FBN1 erklärt. In einigen Fällen liegen aufgrund einer krankheitsrelevanten Mutation im FBN1-Gen ausschließlich kardiovaskuläre Probleme, wie z. B. ein thorakales (im Brustraum liegendes) Aneurysma und/oder eine Dissektion der Aorta (abgekürzt TAAD), vor. Das FBN1-Gen ist für die Produktion des Proteins Fibrillin-1 notwendig.
Die Mutation liegt bei Patient:innen mit Marfan-Syndrom fast immer in heterozygotem Zustand vor, das heißt, dass eine der beiden Genkopien im menschlichen Genom die Veränderung trägt. Bei etwa 75% der Personen wurde die FBN1-Mutation von einem Angehörigen vererbt, und bei etwa 25% der Betroffenen ist diese genetische Veränderung neu entstanden, liegt also nicht bei einem der Eltern vor. Klinisch ähnlich zum Marfan-Syndrom ist das Loeys-Dietz-Syndrom; häufig sind Personen mit Marfan-Syndrom klinisch kaum von Personen mit Loeys-Dietz-Syndrom zu unterscheiden. Das Loeys-Dietz-Syndrom ist eine genetisch heterogene Krankheit, da Mutationen in einem von mindestens sechs verschiedenen Genen (TGFBR1, TGFBR2, TGFB2, TGFB3, SMAD2 und SMAD3) mit diesem Krankheitsbild einhergehen (Meester und Mitarbeiter, 2017). Bei Personen mit TAAD, die keine krankheitsursächliche Mutation im FBN1-Gen bzw. in einem der sechs für das Loeys-Dietz-Syndrom bekannten Gene haben, sollte eine weiterführende molekulargenetische Diagnostik durchgeführt werden (Brownstein und Mitarbeiter, 2017; Verstraeten und Mitarbeiter, 2017; von Kodolitsch und Kutsche, 2017).
Mit dem Inkrafttreten des Gendiagnostikgesetzes (GenDG) am 1. Februar 2010 muss in Deutschland eine Aufklärung durch den/die verantwortliche/n Arzt/Ärztin über die Art der Untersuchung sowie mögliche Ergebnisse und Konsequenzen der genetischen Untersuchung erfolgen. Die zu untersuchende Person muss in die Untersuchung und die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe (in der Regel eine Blutprobe) ausdrücklich und schriftlich gegenüber der verantwortlichen ärztlichen Person einwilligen. Die Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden.
Zum 1. Juli 2016 wurden die abrechnungsfähigen Leistungen für die genetischen Untersuchungen [festgelegt im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM)] bei Verdacht auf Marfan-Syndrom bzw. klinisch dazu ähnlichen Erkrankungen entsprechend dem Stand von Wissenschaft und Technik angepasst. Mit Hilfe einer neuen molekulargenetischen Technologie, der sog. massiven Parallelsequenzierung oder next-generation sequencing (NGS), kann eine größere Anzahl von Genen gleichzeitig, schnell und kostengünstig untersucht werden. Der EBM legt für die klinische Diagnose eines Marfan-Syndroms fest, dass die Gene FBN1, TGFBR1 und TGFBR2 untersucht werden müssen. Bei der klinischen Diagnose TAAD, zu der im weitesten Sinne auch das Loeys-Dietz-Syndrom zu zählen ist, sollen mindestens die Gene FBN1, ACTA2, COL3A1, MYH11, MYLK, SMAD3, TGFB2, TGFBR1 und TGFBR2 analysiert werden. Durch den Nachweis einer krankheitsrelevanten Mutation in einem der untersuchten Gene wird die klinische Diagnose bei den betroffenen Personen gesichert. Dies ermöglicht eine spezifische, auf das jeweilige Krankheitsbild abgestimmte klinische Versorgung der Patient:innen.
Mit dem Nachweis einer krankheitsrelevanten Mutation im FBN1- (oder einem anderen) Gen, kann Familienmitgliedern der/des Patienten eine genetische Testung auf die spezifische genetische Veränderung angeboten werden. Dies dient entweder zur molekulargenetischen Sicherung oder zum Ausschluss eines Marfan-Syndroms (oder eines der anderen oben erwähnten Krankheitsbilder). Bei Familienangehörigen, die klinisch bisher unauffällig sind, kann ebenfalls eine genetische Testung auf die spezifische Mutation angeboten werden (prädiktive genetische Testung). In letzterem Fall muss die genetische Untersuchung nach vorheriger genetischer Beratung durch eine/n Facharzt/ärztin für Humangenetik veranlasst werden bzw. einem/r Facharzt/Fachärztin einer anderen Disziplin, der/die über die Qualifikation zur fachgebundenen genetischen Beratung verfügt. Je nach molekulargenetischem Ergebnis muss bzw. sollte der Person, bei der die genetische Untersuchung durchgeführt wurde, eine humangenetische Beratung angeboten werden (Kutsche, 2017).
Prof. Dr. rer. nat. Kerstin Kutsche (1), Prof. Dr. med. Yskert von Kodolitsch (2), Prof. Dr. med. Christian Kubisch (1)
(1) Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52, 20246 Hamburg
(2) Universitäres Herzzentrum Hamburg GmbH (UHZ), Klinik und Poliklinik für Allgemeine und Interventionelle Kardiologie, Martinistraße 52, 20246 Hamburg
Literatur:
Brownstein und Mitarbeiter, Aorta 2017, 5:11-20
Kutsche, in „Das Marfan-Syndrom“ 2017:47-55
Meester und Mitarbeiter, Ann Cardiothorac Surg 2017, 6:582-594
Verstraeten und Mitarbeiter, Nat Rev Cardiol 2017, 14:197-208
von Kodolitsch und Kutsche, Herz 2017, 42:459-467